VORLESUNG WS 2024/25

Myzel eines Holzfäulepilzes.

Musik und lebendige Form

VORLESUNG
Wintersemester 2024-25
Universität Wien, Institut für Musikwissenschaft.

Durchbrüche in der synthetischen Biologie rücken die Sphären von Leben und Form immer näher zusammen – nicht nur auf naturwissenschaftlicher Ebene. Komponistinnen nutzen Techniken auf Basis von Codierung und Sequenzierung, Mustererkennung sowie prädiktive und generative Prozesse. Die Verschmelzung von künstlichem und organischem Leben scheint durch die Rezeptivität und Programmierbarkeit einfachster Lebensformen in greifbare Nähe zu rücken, wenn das kompositorische Repertoire durch die Biologie erweitert wird. Im Spannungsfeld von generativer Klangsynthese und der Erschließung einfacher nichtmenschlicher Lebensformen rückt diese Vorlesung das Denken der Logikerin und Philosophin Susanne K. Langer (1895–1985) ins Blickfeld. Sie hat zwischen 1926 und 1982 ein philosophisches Œuvre entwickelt, dessen Schwerpunkt auf der musikalischen Form liegt und sowohl auf semiologische und phänomenologische als auch biologische Implikationen eingeht. Ein Denken, das in einer Epoche, in der das Verhältnis von Mensch und Natur neu ausgelotet wird, an Fahrt aufnimmt. Die eingehende Betrachtung Langers philosophischer Konzepte – Fühlen und Form, Geist und Leben – wird durch eine philosophiehistorische und musiktheoretische Betrachtung erweitert. Besonders hervorzuheben sind hier Ernst Cassirer und Alfred N. Whitehead, neben Eduard Hanslick oder Heinrich Schenker.

Die Synthese von Leben und Form hat zudem eine prägnante Wurzel in den avantgarden der Neuen Musik. Hier werden Schriften und Werk von Edgar Varèse herangezogen, sowie seine Rezeption und Weiterentwicklung in der deutschen Musiktheoretikerin Helga de la Motte-Haber oder dem chinesisch-amerikanischen Komponisten Chou Wen-chung. Es wird ein Bogen zur aktuellen Soundart und Medienkunst (z. B. dem speziesübergreifenden Kollektiv Interspecifics) sowie Komponistinnen, die Methoden der Co-Kreation mit nichtmenschlichen Lebensformen entwickeln (z. B. Saša Spačal, Eduardo Reck Miranda), gespannt. Solche Ansätze erweitern konventionelle Gestaltungsprinzipien durch Unvorhersehbarkeit (Chaos), Prozesse der Selbstorganisation und emergentes Verhalten (Bio-Computing und Feedback).

METHODEN: Vortrag, Beispiele aus Musik und Kunst, Diskussion. Ggf. Gastvorträge. Ggf. Exkursion oder Veranstaltungshinweise.

SCHLAGWORTE: Neue Musik(en), analytische Philosophie, Biologie, Musik als Form, Leben als Code, künstliches Leben, generative Musik.

LITERATUR:

Gaikis, Lona. 2024. „Introduction“. The Bloomsbury Handbook of Susanne K. Langer. 1–17. London: Bloomsbury. OA: https://www.bloomsburycollections.com/monograph?docid=b-9781350294660&st=langer

Gaikis, Lona. 2024. „Music as the DNA of Feeling“. The Bloomsbury Handbook of Susanne K. Langer. 165–182. London: Bloomsbury.

Grüny, Christian. 2024. „The Systematic Position of Art in Susanne K. Langer’s and Ernst Cassirer’s Thinking.“ The Bloomsbury Handbook of Susanne K. Langer. 121–32. London: Bloomsbury.

Grüny, Christian. „System und Tonart. Zur Rolle der Kunst bei Ernst Cassirer und Susanne K. Langer.“ Journal Phänomenologie Bd. 42 (2014): 65–77.

Harburger, Walter. Form und Ausdrucksmittel in der Musik. Stuttgart: Engelhorns Nachfolger, 1926.

Langer, Susanne K 1967. Mind: An Essay on Human Feeling. Vol. I. Baltimore: Johns Hopkins Press.

Langer, Susanne K. 1962. „The Process of Feeling“. In Philosophical Sketches, 11–29. Baltimore: Johns Hopkins Press.

Langer, Susanne K. 2018 [1953]. „Das Leben und sein Bild“. Fühlen und Form: Eine Theorie der Kunst. Übersetzt von Christian Grüny. 399–431. Hamburg: Meiner Verlag.

Langer, Susanne K. 1984 [1942]. Philosophie auf neuem Wege: das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst [Philosophy in a New Key]. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Margulis, Lynn. 2018. Der symbiotische Planet. Frankfurt a. M.: Westend Verlag.

Miranda, Eduardo Reck. „Genetic Music System with Synthetic Biology“. Artificial Life, Bd. 26, Nr. 3 (September 2020): 366–90. https://doi.org/10.1162/artl_a_00325.

Miranda, Eduardo Reck, Edward Braund, und Satvik Venkatesh. „Composing with Biomemristors: Is Biocomputing the New Technology of Computer Music?“ Computer Music Journal, Bd. 42, Nr. 3 (Oktober 2018): 28–46. https://doi.org/10.1162/comj_a_00469.

La Motte-Haber, Helga De la. 1993. Die Musik von Edgard Varèse. Studien zu seinen Schriften nach 1918. Hofheim/Ts: Wolke Verlag.

Nocek, Adam. 2024. „Susanne K. Langer and Philosophical Biology“. In The Bloomsbury Handbook of Susanne K. Langer, 183–99. London: Bloomsbury Academic.

Schenker, Heinrich. 1956 [1935]. Der freie Satz. Hg. Oswald Jonas. Bd. 3. Neue musikalische Theorien und Phantasien. Wien: Universal Edition.

Solie, Ruth A. „The Living Work: Organicism and Musical Analysis“. 19th-Century Music. Bd. 4 Nr. 2 (1980): 147–56. https://doi.org/10.2307/746712.

Varèse, Edgar, und Chou Wen-chung. „The Liberation of Sound“. Perspectives of New Music, Bd. 5, Nr. 1 (Herbst-Winter 1966): 11–19. Deutsche Übersetzung: La Motte-Haber, Helga de, Hg. Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs. Hamburg Symposium Edgard Varèse. Hofheim: Wolke-Verl., 1992.

ERWEITERNDE LEKTÜRE

Cassirer, Ernst A. 1945. „Structuralism in Modern Linguistics.“ WORD Bd. 1, Nr. 2 (August 1945): 99–120. https://doi.org/10.1080/00437956.1945.11659249.

Cassirer, Ernst. 1995 [1928]. „‚Geist’ und ‚Leben’“. Zur Metaphysik der symbolischen Formen. 3–31. Hamburg: Meiner.

Dengerink Chaplin, Adrienne. The Philosophy of Susanne Langer: Embodied Meaning in Logic, Art and Feeling. London: Bloomsbury Academic, 2019.

Lachmann, Rolf. 2000. Susanne K. Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens. München: Fink Verlag. http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00043407_00001.html.

Schrödinger, Erwin. 1989. Was ist Leben? Übersetzt von L. Mazurczak. München: Piper.

Weibel, Peter. 2023. BioMedia: The Age of Media with Life-like Behavior. Leipzig: Spector Books.

Whitehead, Alfred N. 2000 [1927]. Kulturelle Symbolisierung. Übersetzt von Rolf Lachmann. Frankfurt am M.: Suhrkamp.