BLACKBOX DES FÜHLENS

Darstellung des “stochastischen Gradientenabstiegsverfahrens“, der die Parameter eines Algorithmus für eine möglichst niedrige Ausfallrate optimieren soll. Die Methode beruhte trotz Studien lange Zeit auf Trial and Error und galt daher unter Software-Ingenieuren als alchemistisch. Grafik: Alexander Amini, Daniela Rus MIT (Artikel: “AI researchers allege that machine learning is alchemy” via Science.org).

Vorlesungskonzept.

Blackbox des Fühlens:
Musik zwischen Intuition und Algorithmen

ΕΝ ΑΡΧΗ ΗΝ ΑΡΙΘΜΟΣ

Die Blackbox – sowohl eine gängige Metapher für die opake Entscheidungslogik generativer KI als auch eine treffende Zuschreibung für die Undurchdringlichkeit menschlichen Fühlens und Denkens. Während die Entwicklung künstlicher neuronaler Netzwerke durch iterative Techniken zum Verständnis ihres nichtlinearen Verhaltens voranschreitet (Saliency/Attribution Maps, Reverse Engineering, Inceptionism, Recursive Segmentation), bleibt das Wissen über unser eigenes, menschliches Inneres durch die Teilung der Ästhetik in psychologische Fragestellungen oder metaphysische Spekulationen fragmentarisch, diffus – mystisch. Der Wettstreit um die Erschließung des organismischen, vom Zufall bestimmten Denkens und dem der mathematisch-deterministischen Prozesse hat längst begonnen – ebenso die geistige Verschränkung mit ihnen.

Der Gedanke, das Gehirn nicht bloß als große Schalttafel, sondern als viel größeren Transformator zu verstehen, der sowohl durch unmittelbare Erfahrung als auch durch verborgene symbolistische Konnotationen bestimmt ist, liegt der Musikphilosophie Susanne K. Langers zugrunde. Musiken bilden dabei die sinnlich-emotionale Grundstruktur, die diesen schwer zugänglichen Komplex sedimentierter Erfahrungen stimuliert. Das Refugium logischer Syntax ist aus dieser Perspektive nur ein Ausschnitt eines viel weitläufigeren Ozeans symbolischer Artikulationen, der ein ganzes Spektrum von Logiken beherbergt. Die künstlerische Form, der Prompt für das menschliche Fühlen, dient dabei der Iteration unserer psychophysischen Verstrickungen.

Was geschieht, wenn wir den transformatorisch-kreativen Prozess mit neuen technologischen Agent*innen erweitern, die zwar rekursive Muster in Musikstilen erkennen, Töne kombinieren und die emotionalen Gradienten musikalisch präzise einsetzen können (zu Doppelgängern der großen Meister werden), aber wegen der inneren textbasierten Heuristik nicht zu einfachstem mathematischem Denken fähig sind? Ist die Arithmetik neben der Kompetenz, Rechenaufgaben zu lösen, nicht auch von einem Gefühl für Proportion, Rhythmus, Abstand und Höhe von Intervallen, also Elementen der Intuition, geprägt? Was passiert, wenn nicht mehr das „innere Singen, das musikalisch Talentierte zur Erfindung eines Tonstückes treibt“ (Hanslick, 1874), sondern sich die Simulation der Simulation dieses Fühlen zu eigen macht („Good composers borrow, great composers steal“ – David Cope)?

Diese Vorlesung vertieft den Blick in das Denken der Logikerin und Philosophin Susanne K. Langer (1895–1985) und ihre Konzeption der primären und sekundären Illusion in der Musik. Hierin wird Klang als eine Kombination aus virtuell erlebter Zeit und dem Empfinden von Raum als klangliche Volumina aufgefaltet. Wahrnehmung wird im reziproken Austausch zwischen autogener Handlung und exogenen Einflüssen (individuation, involvement) in einer Matrix verwobener Ereignisse verstanden (acts). Es ist eine Philosophie, die Fühlen und Form zusammendenkt und durch eine höchst analytische Betrachtungsweise sowie im Abgleich mit künstlerischen Praxen begreiflich macht. Die erkenntnistheoretische Betrachtung des symbolistisch-musikalischen Ausdrucks wird durch medien- und musiktheoretische Diskurse erweitert (McLuhan, 1964; Lerdahl & Jackendorff, 1996; Kittler, 2005; Harper, 2011). Ferner möchte diese Diskussion an die Kritik am technologischen Rationalismus anknüpfen und sie aktualisieren (Adorno, 1956; Marcuse, 1964).

Mathematische Grundlagen wie auch generative Techniken sind der Musik inhärent. Es werden historische Beispiele der Musikgeschichte besprochen – etwa Mozarts ‚Würfelspiel‘, John Cages ‚4:33‘, John Conways ‚Game of Life‘ oder Laurie Spiegels ‚MusicMouse‘ – sowie Versuche, KI in die musikalische Co-Kreation zu involvieren (David Cope, Rebekah Wilson, Holly Herndon). Gleichzeitig gehen wir auf die Bedeutung der körperlichen Resonanz in der Psychoakustik (Maryanne Amacher) sowie auf eine Phänomenologie elektroakustischer Klangforschung (Annette Vande Gorne) als Techniken zur Wieder-Verkörperung von Klang ein.

Wenn doch der Ursprung von allem die Zahl ist (nicht das Wort), vollendet sich eine Logik der Industriegesellschaft 4.0 tatsächlich in der Synchronisierung mit syntaktischen Strukturen? Oder gibt es darüber hinaus eine erlebte Wirklichkeit pulsierender, polyfoner Form, die es noch zu ergründen gibt?

KEYWORDS
generative Musik, Algorithmen, Phänomenologie, empirische Musikwissenschaft, Psychoakustik, Elektroakustik

SPRACHE
Deutsch. Es werden Texte auf Deutsch und Englisch gelesen.

METHODEN
Vortrag, Beispiele aus Musik und Medienkunst, Diskussion, ggf. Gastvorträge. Veranstaltungshinweise laufend.

ZIELE
Vermittlung und kritische Reflexion Susanne K. Langers Philosophie; Philosophiegeschichtliche Genese des Begriffs ‚Fühlen‘ sowie der Komplementarität von ‚Rekursivität‘ und ‚Kontingenz‘. Weiters werden in Susanne K. Langer Ansatzpunkte für die empirische Musikwissenschaft aufgezeigt.

LITERATUR (ENTWURF):

Adorno, Theodor W. 1982 [1956]. Dissonanzen: Musik in der verwalteten Welt. 6. Aufl. Kleine Vandenhoeck-Reihe 1028. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Cope, David. 1996. Experiments in Musical Intelligence. Madison, WS: A-R Editions.

Gaikis, Lona. 2024. „Music as the DNA of Feeling“. The Bloomsbury Handbook of Susanne K. Langer. London: Bloomsbury Academic.

Gaikis, Lona. 2019. „Rebekah Wilson – Cyberspace As A Musical Instrument“. In Hidden Alliances – Versteckt Verbunden, Hg. Elisabeth Schimana, Institut für Medienarchäologie IMA und Ars Electronica, übersetzt von Kimi Lum, 130–37. Berlin: Hatje Cantz.

Hanslick, Eduard. 1874. Vom musikalisch Schönen. Leipzig: Johann Ambrosius Barth.

Harburger, Walter. 1919. Die Metalogik: Geometrie der Empfindungen. München: Musarion Verlag.

Harper, Adam. 2011. Infinite Music: Imagining the next Millennium of Human Music-Making. Alresford UK: Zero Books/John Hunt.

Hui, Yuk. 2019. Recursivity and Contingency. Rowman & Littlefield Publishers. https://doi.org/10.5771/9781786600547.

Ihmels, Tjark, und Julia Riedel. 2007. „Die Methodik der generativen Kunst“. Medien Kunst Netz. 15. Februar 2007.

Kittler, Friedrich. 2009 [2005]. Musik und Mathematik I. Hellas 2: Eros. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

Langer, Susanne K. 2018 [1953]. Fühlen und Form: Eine Theorie der Kunst. Übersetzt von Christian Grüny. Hamburg: Meiner.

Langer, Susanne K. 1962. „The Process of Feeling“. In Philosophical Sketches, 11–29. Baltimore: Johns Hopkins Press.

Langer, Susanne K. 1965. Philosophie auf neuem Wege: das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Berlin: S. Fischer.

Langer, Susanne K. 1929. „A Set of Postulates for the Logical Structure of Music“. The Monist, Bd. 39, Nr. 4, Oktober 1929.

Lerdahl, Fred, und Ray Jackendoff. 1996. A Generative Theory of Tonal Music. Cambridge, MA: MIT Press.

Linsey, Jack, Wes Gurnee, Emmanuel Ameisen, Brian Chen, Adam Pearce, Nicolas L. Turner, Craig Citro, und Joshua Batson. 2025. „On the Biology of a Large Language Model“ (Anthropic Forschungsprojekt). Transformer Circuits (blog). 27. März 2025.

Locke, John. 1894 [1690]. An Essay Concerning Human Understanding. Bd. I+II. Oxford: Clarendon Press.

Marshall McLuhan. 2001. Understanding Media – The Extensions of Man. New York: Routledge.

Marcuse, Herbert. 1998 [1964]. Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 3. Auflage. München: Taschenbuch.

Schubert, Alexander. 2021. Switching Worlds. Übersetzt von Liz Hirst. Berlin: Wolke.

Vande Gorne, Annette. 2018. „Treatise on Writing Acousmatic Music on Fixed Media“. LIEN Musical Aesthetic Review, IX.

Whitehead, Alfred N. 1927. Symbolism: Its Meaning and Effect. 3. Edition. New York: Fordham University Press, 1985.