REBEKAH WILSON

Der Cyberspace als musikalisches Instrument

Die Virtualität des Cyberspace transzendiert Gewissheiten über Norm, Stabilität und Singularität der materiellen Welt. In diesem Raum erkennt sich das Individuum als Agent*in im Netzwerk einer Vielzahl virtueller Entitäten und aktiviert sich in diesem Nebel als namenlose unter den Niemanden. Rebekah Wilson – digitale Nomadin – ist solch eine Figur.

Unter dem Namen Netochka Nezvanova [1] – Dostojewskis „namenloser Niemand“ (1849) – tritt die Komponistin, Programmiererin und Netzaktivistin Rebekah Wilson das erste Mal in den späten 1990er Jahren aus dem Nebel der Netz-Avantgarde – der INVISIBLE GENERATION – in Erscheinung. Ihre undurchsichtige Identität der anbrechenden Cyber-Epoche bleibt nach wie vor nebulös. Im Kollektiv entwickelte Netochka Nezvanova (NN) die damals weit verbreitete Software Nato.0+55, eine Erweiterung von Max/MSP zur Bildbearbeitung in Echtzeit. Auch das gewaltige Crossmedia-Kompositionssystem Nebula.m81, eine URL Synthesis, die Userdaten und Bewegungen aus dem Internet in Klang umwandelt [2], gehört zu den legendären Softwareentwicklungen der anonymen Programmierer- und Aktivist*innen. Nebula.m81, das erste „Musikinstrument des Internet“, [3] wurde 2001 mit dem Software Art Award der Transmediale Berlin ausgezeichnet und ebnete den Weg für spätere Ambitionen, Netzwerkdaten künstlerisch und kommerziell zu nutzen. Nicht nur diese wahrgewordene Cyber-Utopie erregte die Aufmerksamkeit der Netzgemeinde und fand zahlreiche Nutzer*innen – NN war streitbar. Unter den Pseudonymen „antiorp“, „integer“, „m2zk!n3nkunzt“, oder „=cw4t7abs“ betrieb sie disruptive Netzpoesie mit radikal-netzaktivistischer Agenda. Es rankten Mythen und Ängste um sie, denn in großangelegten Kampagnen überschwemmte sie geradezu die Foren der Netz-Avantgarde im Silbernen Zeitalter der Sozialen Medien [4].  In der Mailingliste nettime.org [5] oder der Plattform Syndicate [6] schaltete sie täglich Dutzende digital-dadaistische Nachrichten und ließ Kontrahent*innen oder Konkurrent*innen mitunter gnadenlos stummschalten. Netochka Nezvanova war zu der Zeit „die am meisten gefürchtetste Frau des Internet.“ [7]

Fest steht: Die digitale Entität[8] NN war kein einzelnes Individuum. Zwar hatte Wilson zwischen 1999-2005 ihren Namen offiziell geändert – somit war Nezvanova zur juristischen Person geworden – aktiv war Wilson jedoch nicht alleine.

Q: Is Netochka a figment of the Net’s collective imagination?

NN: —A ty budesh chitat? There is only 01 of me. [9]

NN ist die Metapher für eine neue Form fragmentierter Subjektivität in einer Welt, deren Grenzen sich auflösten. Im Geist William Burroughs‘ generationenprägendem Buch Die Elektronische Revolution (1970), bzw. der Verfilmung DECODER (Westberlin, 1984) tauchte NN im Cyberspace unter und produzierte Code, um die neue digitale Welt zu formen. Sie forderte die Grenzen von Autor*innenschaft, Medien und Grundfeste der digitalen Netzgemeinschaft heraus – nicht um sie zu zerstören, sondern um sie für die bevorstehende digitale Revolution widerstandsfähig zu machen.

Screenshot Nebula.m81. Transmediale Award 2000.

Die INVISIBLE GENERATION nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und konfrontiert mit den neuen Möglichkeiten des Internet, machte sich – als Generation der Unsichtbaren – die Musik zu Nutze, um bis dahin als unverrückbar geltende Normen und Regeln zu überschreiten und zu überschreiben. Aus der Subversion von Industrial und dem frühen Cyber-Punk wurde Musik zum Werkzeug, um das Cyberspace zu kolonisieren. Im Gegensatz zu den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, konkurrierte aber dieser diffuse Nebel von Agent*innen um 2000 mit der Zielstrebigkeit einer hochgradig kommerzialisierten Kalifornischen Netz-Ideologie, die eine fatalistische Vision und den unausweichlichen Triumph des High-Tech Marktes über die Soziale Marktwirtschaft verwirklichte und gleichzeitig avantgardistische Methoden der Emanzipation versprach. Die digitale Utopie ist zweischneidig und geht mit einer erheblichen Blindheit gegenüber Problemen wie Rassismus, finanzieller Ungleichheit und Umweltzerstörung einher [10]. NN positionierte sich als kritische Entität dieses Techno-Futurismus und transhumanistischen Ideals. Ihre kontroversen Aktionen hinterfragten den Glauben an die gefühlte Sicherheit und rosa Zuckerwatte der Proto-Versionen heutiger Social Media, Sharing Economies und angeblich unendlichen Möglichkeiten des Internet überaus überzeugend. Gleichzeitig affirmierte sie diese und machte sie sich zu Nutze.

Rebekah Wilson materialisiert sich 2002 wieder als Person aus diesem digitalen Vapor. Zu NN und dem Grund ihres Ausstiegs hüllt sie sich nach wie vor in Schweigen. Die Widersprüchlichkeit ihres Wesens – antikapitalistisch und aktiv gegen faschistische Tendenzen, zugleich profitorientiert und (virtuell) gewaltsam – sowie die generelle Zerrissenheit der weltweiten Cyber-Akteure über Ethik, Wirkung und Verantwortung der neuen Technologie sind mögliche Ursachen.  Eine private Komponente spielte ebenfalls eine Rolle, denn ähnlich wie Dostojewskis Romanfigur, ging die Cyber-Entität NN aus einer Liebe im Chatforum hervor [11]. Zu dieser Zeit fand Rebekah Wilson auch ihren Platz als Künstlerin am STEIM (STudio for Electronic Instrumental Music, Amsterdam), wo sie von 2000 bis 2002 Co-Direktorin war und sich als Kuratorin und Teilnehmerin an internationalen Festivals, Workshops und Ausstellungen beteilige.

Sie kehrte 2002 nach Christchurch, Neuseeland, zurück und setzte ihre Tätigkeit als Musikerin – vor Allem aber als Programmiererin – fort. Sie ist Mitgründerin und Direktorin des Softwareunternehmens SOURCE ELEMENTS (seit 2004), das sich auf Audio-Aufnahmen und Real-Time- sowie Cross-Network Performances spezialisiert. Die Idee, den Raum des World Wide Web für die Musik fruchtbar zu machen, setzt sich fort. Wilson entwickelt digitale Werkzeuge, die es Musiker*innen möglich macht, sich im Cyberspace zu transzendieren. Diese Technologien bindet sie in eigene Kompositionskonzepte ein (Beyond Isomorphism: transformation of human/machine agency, 2019) [12]. In Rebekah Wilsons Hand zurrt sich die Welt für den musikalischen Moment zusammen. Ihre Tools machen es möglich, an unterschiedlichen Orten gleichzeitig miteinander Musik zu machen. Mensch und Maschine verschmelzen über Zeit und Raum hinaus.

Wilsons Bedürfnis nach Immersion besteht weiterhin. Als Akteurin der elektronischen Netz-Avantgarde stillt sie das nicht mehr in der Auflösung im binären Code. Sie hat sich als digitale Nomadin für ein Leben als Komponistin, Technologin und Forscherin unter eigener Autor*innenschaft entschieden. Überall in der Welt beheimatet, ist sie zwischen den Kontinenten Australien, Europa und den Amerikas immer in Bewegung. Anstatt sich dem Ideal der Maschine zu unterwerfen, emanzipiert sie das Menschliche von der Technologie und beansprucht ihre Überlegenheit. Heute entwickelt sie auf der Basis von C/C++, Python und Javascript den digitalen Rahmen ihrer Kompositionen. Künstliche Intelligenz (AI) spielt dabei eine immer größere Rolle, denn ihre musikalischen Werkzeuge spezialisieren sich auf Improvisation und Performance über das öffentliche Internet. Individuelle und hochgradig reaktionsfähige Notations-Interfaces kompensieren dabei Latenz und Interferenzen. Die Software spürt das Muster „musikalischen Agent*innen“ (Musiker*innen) im Performance-Intervall auf, analysiert sie und kann diese in Echtzeit übertragen. Das Analyseverfahren gleicht Lücken durch Buffer und Netzunterbrechungen aus. Als eigenständige Entität künstlicher Intelligenz kann es von Musiker*innen lernen und deren Schritte vorausberechnen [13]. Der Musiker*in obliegt die Entscheidung, wie weit das Tool in die Performance eingreift, oder ob sie die künstliche Intelligenz herausfordern möchte.

Rebekah Wilsons kompositorisches Werk vereint komplexe Musiknotation und höchst entwickelte digitale Verarbeitungsprozesse. Während mit Nato.0+55 und Nebula.m81 das Internet und sein Material Datenressource waren, um die Utopie nichtlinearer Narrative der 1990er Jahre durch Cut-up und dadaistischer Maschinenkunst zu verwirklichen, ändert sich die heutige Technologie rapide und entwickelt sich zu einer prothetischen Verschmelzung von Mensch und Maschine. Kunst und technologische Innovation vereinen sich in Wilsons audiovisuellen Kollaborationen, wie der interaktiven Installation Hypoderm (2002) [14] gemeinsam mit der Medienkünstlerin Jaine Evans. Damals noch unter NN steuerte Wilson Programmierelemente und das Interface Nato.0+55 (Max/MSP) bei. In ihren Arbeiten aus der Zeit am STEIM ist Wilson als wesentliche Mitwirkende an großdimensionierten Medien-Installationen beteiligt, entwickelt Objekte in C/C++ für Programme wie SuperCollider und Max/MSP und performt als Musikerin auf Medienkunstfestivals. Für den umweltkritischen Dokumentationsfilm World Trade Opera (PRIM Montreal, 2003) von Alain Pelletier entwickelte sie einen eindringlich-sphärischen Soundtrack. Ihr aktivistisches Potential zeigt sich weiterhin in Kurzfilmen, wie FFFF#17 / Letter to A Lost Planet (2005) [15], mit der Filmemacherin Betty Jo Moore, der eine anti-kapitalistische Allegorie der Heuschrecke als Unternehmens- und Ökologieplünderer darstellt. Eine gesamte Diskographie ihrer Werke steht bislang aus.

Heute behauptet sich Rebekah Wilson als Unternehmerin in der Start-Up Szene für Computertechnologie und verknüpft die Softwareentwicklung im künstlerischen Bereich mit kommerziellen Anwendungen und vice versa. In der Kompositionsserie F Not F (2019, fortlaufend) nutzt sie das bereits erwähnte Tool, das menschliche Muster für die musikalische Improvisation über öffentliche Netzwerkdienste erkennt und überbrückt Distanzen im physischen Raum. Die akustische Kommunikation über das Netz erlaubt es der Komponistin, Projekte mit Musiker*innen an verschiedenen Orten der Welt zu verwirklichen und Konfliktzonen zu überwinden. So realisierte sie 2019 in GOT-ATH Vocal Postcards, an der Oper Göteborg, Schweden, eine länderübergreifende Performance zwischen einem Chor syrischer Geflüchteter und dem Chor der Griechischen National Oper [16]. Ihre Projekte führt Wilson nicht erstrangig unter ihrem Namen aus, was sie als Komponistin in eine klassische, Musik konservatorische Einfassung erschwert. Grundsätzlich wird die schwerzufassende digitale Netz-Avantgardistin an der Aufzeichnung ihrer Agentialität nicht interessiert sein, wo sie doch um die Freiheit der Unsichtbarkeit weiß.  

© Rebekah Wilson

[1] Njetotschka Neswanowa, Titelheldin Dostojewskis erster mehrteiligen Romanerzählung (1849). Der unvollendete Roman gibt ein zeitloses Bild adoleszenter Zerrissenheit, Identitätssuche, Liebe und weiblicher Sexualität. Er problematisiert das Schicksal eines entwurzelten Subjekts.

[2] Vgl. Nezvanova, Netochka. 2000. “The Internet, A Musical Instrument in Perpetual Flux.” Computer Music Journal Vol. 24, No. 3, p. 38. https://www.jstor.org/stable/3681738?seq=1#page_scan_tab_contents. Heruntergeladen am 29.05.2019.

[3] Vgl. Nezvanova 2000.

[4] Vgl. Wark, McKenzie. 2016. “The Silver Age of Social Media.” In A Companion to Digital Art, edited by Christine Paul, 400–412. Wiley Blackwell.

[5] Nettime.org (seit 1995) Mailing Liste von Geert Lovink und Pit Schultz für Programmierer-, Medienkünstler- und Aktivist*innen. Als Proto-Typ sozialer Medien war die Plattform ein beliebtes Forum der Netz-Avantgarde der 1990er.

[6] Syndicate (1996-2001) Europäisches Netzforum für Künstler- und Hacker*innen. Ursprünglich zum Aufbau des Netzwerks von Ost-West und Ost-Ost, wuchs Syndicate zu einer pan-europäischen Plattform.

[7] Mieszkowski, Katherine. 2002. “The Most Feared Woman on the Internet. Nezvanova Is a Software Programmer, Radical Artist and Online Troublemaker. But Is She for Real?” Salon.Com (Blog). https://www.salon.com/2002/03/01/netochka/. Heruntergeladen am 05.05.2019.

[8] Vgl. Mieszkowski 2002.

[9] Vgl. Mieszkowski 2002.

[10] Vgl. Barbrook, Richard, und Andy Cameron. “The California Ideology.” Mute 3, 1995. http://www.imaginaryfutures.net/2007/04/17/the-californian-ideology-2. Heruntergeladen am 06.06.2019.

[11] Vgl. IMA Fiction Portrait #2 Rebekah Wilson Aka Netochka Nezvanova. 2006. Dokumentation. IMA Institut für Medienarchäologie. https://www.ima.or.at/imafiction/video-portrait-02-rebekah-wilson-aka-netochka-nezvanova. Heruntergeladen am 05.05.2019

[12] Wilson, Rebekah. 2019. F not F (Beyond Isomorphism: transformation of human/machine agency). Cross Network Komposition und Keynote. Orpheus Institut, Ghent BE. https://www.ntnu.edu/web/wac2019/keynotes.

[13] Vgl. Wilson, Rebekah. 2019. “Towards Network-Aware Responsive Scoring Techniques.” Unveröffentlicht.

[14] Evans, Jaine, und Rebekah Wilson (nato.0+55 objects. C/C++ code). 2002. Hypoderm. Interaktive Installation. Amsterdam (NL), Montevideo (BR).

[15] Wilson, Rebekah, und Betty Jo Moore. 2005. FFFF#17 / Letter to A Lost Planet. Kurzfilm, Soundtrack. Fast Forward Film Festival, Chicago. 3min.

[16] Wilson, Rebekah. 2019. GOT-ATH Vocal Postcards. Chorprojekt, Oper Göteborg. https://en.opera.se/forestallningar/vocal-postcards-2018-2019/.

Originaltext zur Publikation “Hidden Alliances – Versteckt Verbunden”. Herausgeber*innen: Elisabeth Schimana, IMAInstitut für Medienarchäologie und ARS Electronica. Berlin: Hatje Cantz, 2019. Text: Lona Gaikis. Online erhältlich im IMA – Shop.